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N A. B Der Osterstreit
 
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Der Osterzyklus des Victorius

Im Osterstreit des Jahres 455 hatte Papst Leo eine schmähliche Niederlage erlitten, die höchsten etwas versüsst wurde durch die Niederlage des Patriarchen von Alexandria auf dem vierten ökumenischen Konzil von Chalcedon. Überzeugt war Leo durch die Argumente des Proterius nicht. Er wollte genaueres wissen und beauftragte den Archidiakon Hilarus, der Sache auf den Grund zu gehen. Allein die Tatsache, dass einer der höchsten Kurienmitglieder mit dieser Aufgabe betraut wurde, zeigt, welche Bedeutung der Papst dem Osterstreit beimass. Im Jahre 461 sollte Hilarus als Nachfolger Leos selbst zum Papst gewählt werden.

Hilarus macht sich unverzüglich an die Arbeit und studierte die griechischen und lateinischen Quellen. Viel weiter als zu der Erkenntnis, dass diese sich in wichtigen Punkten unterscheiden, zuweilen gar widersprechen, kam er nicht. So gab er den Auftrag an einen gewissen Victorius aus Aquitanien weiter, der als guter Mathematiker bekannt war. Er solle herausfinden, wo die unterschiedlichen Ansichten herrührten und nachforschen, wie das Osterdatum richtig zu berechnen sei. [1]

Im Jahre 457 legte Victorius das Ergebnis seiner Arbeit vor, eine Ostertafel, in der die Daten von 532 Jahren verzeichnet sind, sowie eine ausführliche Einleitung, in Form eines persönlichen Briefes gehalten, in der er die Grundlagen seiner Berechnung darlegt.[2]

Victorius hatte die ihm zur Verfügung stehenden Quellen offenbar sorgfältig durchgearbeitet, den Zyklus von 112 Jahren des Hippolyth, die Supputatio romana sowohl mit 12jährigen wie auch mit 14jährigen saltus lunae sowie die alexandrinischen Schriften, in erster Linie wohl den Prolog des Theophilus und den Brief des Proterius aus dem Jahre 454. Als Ursache für die abweichenden Osterdaten nennt er die folgenden Gründe:

1.: Die Unterschiede in den von ihm aufgezählten Mondzyklen, die Luna XIV paschalis, den "Ostervollmond", auf unterschiedliche Tage legen.

2.: Die Frage, wann der "erste Monat" beginnt. Für die Römer ist es derjenige Monat, dessen Luna I frühestens auf den 5. März und spätestens auf den 2. April fällt. Luna XIV paschalis liegt demzufolge in die Zeit vom 18. März bis zum 15. April. Bei den Alexandriner hingegen beginnt der erste Monat frühestens am 8. März und spätestens am 5. April. Luna XIV paschalis liegt daher in der Zeit vom 21. März bis zum 18. April.

3.: Die Frage, wie zu verfahren sei, wenn Luna XIV paschalis auf einen Samstag fällt. Bei den Alexandriner ist der folgende Sonntag der Ostersonntag, das Mondalter des Ostersonntags reicht also von Luna XV bis Luna XXI. In Rom hingegen wird in diesem Fall Ostern um eine Woche verschoben, der Ostersonntag hatte also Luna XVI bis Luna XXII.

Mit dieser Beschreibung der Problematik war der erste Teil seines Auftrags erfüllt. Viel schwieriger war der zweite Teil, nämlich einen Weg zu finden, wie in Zukunft Ostern fehlerfrei bestimmt werden könne.

Victorius kommt zu der Überzeugung, allein ein 19jähriger Mondzyklus biete die Gewähr, dass Luna XIV paschalis dauerhaft mit dem Vollmond übereinstimme. Da der 28jährige Sonnenzirkel vorgegeben war, umfasst sein Osterzyklus insgesamt 532 Jahre. Seine Ostertabelle besteht daher 532 Zeilen, je eine Zeile für jedes Jahr.

Da sein Zyklus eine so grosse Anzahl von Jahren umfasste, hatte er das Problem, eine neue Zählung der Jahre zu finden. Die alexandrinische Rechnung der Jahre nach Diokletian war im Westen unbekannt. Zudem begann diese Zählung mit dem Jahr 284/5 nach Christus, seine Osterliste reichte aber weiter zurück. In Rom wurden damals die Jahre gekennzeichnet durch die Namen der jeweiligen Konsuln. Auch dies löste sein Problem nicht, denn seine Osterliste reichte auch in die Zukunft. Victorius verfasste seine Tafel im Jahre 457 nach Christus (heutiger Zählung), dem Konsulatsjahr des Constantinus und Rufus. Von hier aus zurückschreitend notiert er für jedes Jahr die Namen der Konsuln. So kommt er für das Konsulat der beiden Gemini auf das Jahr 28 nach Christus. Es war weitverbreitete Ansicht, Jesus sie zur Zeit des Konsulats der Gemini gekreuzigt worden. Dieses Jahr macht er nun zum Anfangsjahr seiner Osterzählung. Das Jahr 1 des Victorius entspricht also dem Jahr 28 heutiger Zählung. Seine Liste der Konsul ist allerdings stark fehlerbehaftet, und so mag es kaum aufgefallen sein, dass Victorius sich um ein Jahr verrechnet hat, denn das Konsulat der Gemini entspricht nach heutiger und wohl auch damaliger Auffassung dem Jahr 29 nach Christus.

Gleichzeitig berechnet Victorius das Jahr der Schöpfung. Hier kommt er zu dem Ergebnis, das laufende Jahr (457 nach Christus) sei das Jahr 5658 seit der Erschaffung der Welt. Er setzt also die Schöpfung in das Jahr 5201 vor Christus (-5200 astronomischer Zählung). Mit diesem Jahr beginnt sein 19jähriger Zyklus. Er folgt hier dem Vorbild der Alexandriner und Konstantinopolitaner, die ihre Zyklen ebenfalls mit ihrem jeweiligen Jahr der Schöpfung beginnen lassen. Das Jahr 28 n. Chr. ist demzufolge das vierte Jahr eines 19jährigen Zyklus. Zyklusbeginn und Anfang seiner Ostertafel stimmen nicht überein, sein Zyklus geht auch nicht mit dem der Alexandriner konform, für die das Jahr 28. das 10. Jahr eines Mondzirkels ist. Das war gewollt, denn hierdurch liegt bei ihm Luna XIV paschalis in den Zyklusjahren 1 - 13 und (die den alexandrinischen Jahren 7 - 19 entsprechen) ein Tag früher als bei den Alexandrinern. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen. Das Zyklusjahr 1 alexandrinisch entspricht dem 14. Zyklusjahr des Victorius:

Alexandria  Victorius
Zyklus-
jahr
Luna XIV Zyklus-
jahr
Luna XIV
1 5. April14 5. April
225. März 1525. März
313. April1613. April
4 2. April17 2. April
522. März 1822. März
610. April1910. April
730. März 129. März
818. April 217. April
9 7. April 3 6. April
1027. März 426. März
1115. April 514. April
12 4. April 6 3. April
1324. März 723. März
1412. April 811. April
15 1. April 931. März
1621. März 1020. März
17 9. April11 8. April
1829. März 1228. März
1917. April1318. April

Aus der Tabelle des Victorius ist diese Verschiebung von Luna XIV allerdings nicht leicht zu erkennen, denn er ist mit seinen Angaben recht sparsam. Insgesamt gibt es nur sieben Spalten:

1.: Angabe des Jahres in der Zählung ab dem Jahr der Kreuzigung. Das Jahr 1 des Victorius entspricht wie gesagt dem Jahr 28 nach Christus.
2.: Die Liste der Konsuln vom Jahre 1 bis zum Jahre 430 (28 bis 457 nach Christus), dem Jahr der Abfassung.
3.: Wochentag des 1. Januar
4.: Mondalter (Luna) des 1. Januar.
5.: Datum des Ostersonntags.
6.: Mondalter (Luna) des Ostersonntags.
7.: Abweichende Osterdaten

Diese Verschiebung der Luna XIV hat nun zur Folge, dass in 13 von insgesamt 19 Jahren das Mondalter des Ostersonntags um einen Tag höher ist als nach der alexandrinischen Rechnung. Fällt also in diesen Jahren bei den Alexandrinern Ostern auf Luna 15, so ist dieser Tag nach Victorius bereits Luna 16, beide Seiten können Ostern unter Einhaltung ihrer jeweiligen Regeln am gleichen Tag feiern.

Eine Schwierigkeit aber bleibt bestehen: Wie verhält man sich, wenn Luna XIV auf einen Samstag fällt? Ist dann der folgende Sonntag (Luna XV) der Ostersonntag oder muss man den Ostersonntag um eine Woche verschieben auf Luna XXII? In diesen Fällen verzeichnet Victorius beide Daten, Luna XIV in seiner Tabelle und in einer Randbemerkung die abweichenden Osterdaten. Ein Urteil hierüber zu fällen gebühre nicht ihm sondern allein um des Friedens der Kirche willen dem apostolischen Pontifex ("...ubi luna xv. die dominica est et post septem dies vicesima secunda conscribitur, non meo iudicio aliquid definitum, sed pro ecclesiarum pace apostolici pontificis electioni servatum..."). Die einzelnen Handschriften weichen in den Randbemerkungen voneinander ab. Es ist daher schwer festzustellen, welche Anmerkungen von Victorius selbst stammen, beziehungsweise welche von späteren Schreibern hinzugefügt oder weggelassen wurden.

Victorius hatte einen klar umrissenen Auftrag, den er nach bestem Wissen und Gewissen ausführte. Ihm gebührt das Verdienst, den 19jährigen Mondzirkel im Abendland eingeführt zu haben, aus der klaren Erkenntnis heraus, dass nur dieser Luna XIV paschalis auf Dauer in die Nähe des Ostervollmondes rückt. In diesem Punkt waren auch keine Schwierigkeiten zu befürchten, denn die Berechnung des Mondlaufes war kein theologisches Problem. Anders sah es bei der Frage aus, ob Ostern an Luna 15 gefeiert werden dürfe. Die römische Vorstellung, Luna 16 sei der frühest mögliche Ostertermin geht in die Frühzeit der christlichen Osterfeiern zurück. Luna 15, der 15. Nisan der Juden, ist der Tag des Mezzothfestes, in der Nacht vom 14. zum 15. Nisan hatten die Juden ihr Sedermahl. Ostern an Luna 15 konnte daher durchaus als ein feiern "mit den Juden" oder gar als quartadecimanisch betrachtet werden. Der 16. Nisan hingegen ist der Tag der Erstlingsfrüchte. Von hier aus zählen die 50 Tage bis Pfingsten. Rom hatte einen guten Grund, Ostern an Luna 15 abzulehnen. Noch schwieriger war die Frage zu klären, wann der spätest mögliche Termin für den Ostersonntag sein darf.

Im Gegensatz zu manch anderem Computisten des 5. und 6. Jahrhunderts war Victorius ehrlich. Er zeigt die Schwierigkeiten auf, versucht nicht, sie zu vertuschen. Die letzte Entscheidung überlässt er dem Papst, der Kraft seines Amtes allein die Macht hatte, den Ostertermin festzulegen, nicht gebunden an irgendwelche Zyklen.

Die Osterberechnung des Victorius war ein Kompromiss. Sie hatte das Schicksal eines jeden Kompromisses: Niemanden konnte sie voll zufriedenstellen.


Anmerkungen

1 siehe den Brief des Hilarus an Victorius
2 siehe den Prologus Victorii Aquitani

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