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N A. B Der Osterstreit
 
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Der Osterzyklus des Anatolius

Als erster, der den 19jährigen Mondzyklus in die christliche Osterberechnung einbrachte, wird Anatolius, späterer Bischof von Laodicea, angesehen. Geboren um 230 in Alexandria gilt er als einer der Bischöfe, die über die grösste Allgemeinbildung verfügten. Eusebius schreibt, Anatolius habe infolge seiner Gelehrsamkeit und Erziehung und seiner Schulung in der griechischen Philosophie unter den angesehensten Männern seiner Zeit den ersten Rang eingenommen. In Arithmetik und Geometrie, in Astronomie und anderen Wissenschaften, in Dialektik und auch in Physik und Rhetorik habe er es zu höchsten Vollkommenheit gebracht. Daher baten ihn die Bürger Alexandrias, eine Schule aristotelischer Richtung zu gründen. Anatolius war auch Senator in seiner Vaterstadt, hohes Ansehen erwarb er sich als Vermittler bei Unruhen in Alexandria, wo er viele Bürger vor dem Tod durch Verhungern gerettet haben soll. Neben anderen Schriften hinterliess Anatolius auch ein zehnbändiges Werk über die Arithmetik und eine Schrift über das Osterfest]. Im Jahr 262 verliess er seine Heimatstadt und ging als Presbyther nach Cäsarea. Als er 268 zu einer Synode nach Antiochia gerufen wurde, wurde er auf der Durchreise in Laodicea, rund 50 Kilometer südlich von Antiochia, von den dortigen Christen festgehalten und zum Bischof bestimmt. Dort verstarb er vermutlich im Jahre 282.[1]

Der Liber Anatolii

Von den Schriften des Anatolius ist kaum etwas der Nachwelt erhalten geblieben. Aus der erwähnten Schrift über das Osterfest des Anatolius bringt Eusebius in seiner Kirchengeschichte ein längeres Zitat. Um 400 bearbeitete Rufinus diese Kirchengeschichte und übertrug sie ins Lateinische. Er zitiert Anatolius teilweise von Eusebius abweichend. Ein "Liber Anatoli de ratione paschali" fand im Westen Europas Verbreitung, in Britannien und Irland spielte er eine gewisse Rolle bei den Auseinandersetzungen um den wahren Ostertermin. Columban erwähnte ihn im Jahr 600 in einem Brief an Papst Gregor, auch Beda zitiert mehrfach aus diesem Werk. In ihm finden sich neben dem Zitat aus Rufinus eine Reihe von Erläuterungen zur Osterrechnung wie auch eine Tabelle der Mondphasen und eine Tabelle des Osterzyklus. Erstmals 1633 herausgegeben besorgte Krusch eine weitere Edition dieses "lateinischen Anatolius" oder "Pseudo-Anatolius". Für ihn wie für viele andere, die sich mit diesem Liber Anatoli auseinandersetzten, war dieses Werk nichts anderes als eine irische Fälschung, entstanden im 6. oder 7. Jahrhundert.[2]. Diese Einschätzung des Werks änderte sich allmählich. Einer der ersten, der dem Vorwurf der Fälschung vorsichtig widersprach, war Jones[3]. Strobel, der eine deutsche Übersetzung der Osterschrift des Anatolius erstellte, wies die Behauptung einer "irischen Fälschung" vehement zurück und bringt zahlreiche Belege für das hohe Alter der Schrift.[4] Im Jahre 2003 wurde eine neue sehr sorgfältige Edition dieser Schrift durch Mc Carthy und Breen besorgt.[5] Die Bearbeiter sind der festen Überzeugung, es handle sich bei dem Liber Anatoli um die unverfälschte lateinische Übertragung des Kanon des Anatolius. Ihre Beweisführung ist nicht immer überzeugend. Es dürften heute keine Zweifel mehr bestehen, dass dieser "lateinische Anatolius" eine alte und wichtige Quelle zur Geschichte der Osterberechnung besonders in Britannien und Irland ist, der ursprüngliche "griechische" Anatolius lässt sich allerdings aus ihm nicht erschliessen.

Die Ostertabelle

Für die Rekonstruierung der ursprünglichen, aus dem dritten Jahrhundert stammenden Ostertabelle des Anatolius können nur die Zitate von Eusebius und nachrangig die des Rufinus herangezogen werden. Es gab bereits eine Vielzahl solcher Versuche.[6]. Für die folgenden Ausführungen wurden vor allem die Arbeiten von Eduard Schwartz und van de Vyver herangezogen.[7]

Der Ausgangspunkt des Zyklus:
"Es liegt also der Neumond im ersten Jahr, der der Anfang des ganzen 19jährigen Zirkels ist, auf dem 26. Phamenoth, auf dem 22. Dystros nach den Monaten der Mazedonier, auf dem 11. Tag vor den Kalenden des Aprils, wie die Römer sagen würden."

Mit diesem Satz beginnt Eusebius sein Zitat aus dem Osterkanon des Anatolius. Der erste Monat ist natürlich nach Exodus der Passahmonat, der alttestamentliche Abib, später Nisan genannt. Anatolius setzt den ersten Tag dieses Monats, die Luna I, im ersten Zyklusjahr auf den 22. März, Luna XIV, der zyklische Vollmondtag ist somit der 4. April. Hierüber gibt es keine Zweifel.

Das Äquinoktium und die Ostergrenzen:

Mehrfach betont Anatolius, das Äquinoktium sei zu beachten. Welchen Tag er allerdings als des Tag des Frühlingsäqunoktium betrachtet ist umstritten:

"Es findet sich aber, dass die Sonne an dem erwähnten 26. Phamenoth (= 22. März) nicht nur bereits in den ersten Abschnitt des Tierkreises eingetreten ist, sondern dass sie darin auch schon den vierten Tag zurücklegt. Diesen Abschnitt pflegt man als erstes Teil von zwölfen zu bezeichnen, als (Abschnitt der) Tagundnachtgleiche, Anfang der Monate, Haupt des Tierkreises und Beginn des Planetenlaufes, den vorhergehende aber letzten Monat, zwölftes Zeichen, letztes Zwölfteil und Ende des Planetenlaufes."
......
"Dieser Termin (des Frühlingsäquinoktiums) aber ist gegeben, wenn die Sonne durch das erste Zeichen des Sonnen- oder, wie einige aus ihnen sich ausdrückten, des Tierkreises gehe. Aristobul setzt noch hinzu, daß am Osterfeste nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond durch das Zeichen der Tagundnachtgleiche gehen müsse. Da es nämlich zwei Zeichen der Tagundnachtgleiche gibt, das eine im Frühjahr, das andere im Herbst, und diese diametral einander gegenüberliegen, und da der Ostertag auf den 14. des Monats gegen Abend angesetzt ist, so wird der Mond die Stelle einnehmen, die der Sonne diametral gegenübersteht, wie man das bei den Vollmonden sehen kann. Es wird also die Sonne im Zeichen der Frühlings-Tagundnachtgleiche, der Mond aber notwendigerweise im Zeichen der Herbst-Tagundnachtgleiche stehen."

Diese Stellen wurden und werden heftig diskutiert. Eindeutig ist, dass Anatolius den Eintritt der Sonne in das Zeichen des Widders auf den 19. März setzt, das ist ein Tag später als im Kalender der Römer. Für Schwarz scheint aus der zitierten Stelle mit zwingender Evidenz hervorzugehen, dass Anatolius das Frühlingsäquinoktium auf den 22. März gelegt, den Tag also, an dem die Sonne bereits den vierten Tag des ersten Monats erreicht hat. Strobel schliesst sich dem an und verweist auf die Schöpfungsgeschichte, nach der die Sonne am vierten Tag der Welt geschaffen wurde. Für Schwartz ist es ferner chronologisch richtig und consequent gedacht, dass die Ostergrenze zum Neujahrstag der neunzehnjährigen lunisolaren Periode gemacht wird, nur so könne der vom A.T. verlangte "erste" Monat gefunden werden Ganz anderer Meinung ist Van de Vyver. Für ihn geht aus dieser Stelle eindeutig hervor, dass der Tag, da die Sonne das Zeichen des Widders betritt, also der 19. März, auch der Tag des Äquinoktiums ist. [8]

Die Ostergrenzen

Im lateinischen Anatolius, Eusebius bringt diese Stelle nicht, heisst es ferner:

" Daher ist es geboten, das Passa nach dem Äquinoktium zu opfern, weil die Luna XIV vor dem Äquinoktium und zum Äquinoktium nicht die ganze Nacht ausfüllt. .... Uns aber, bei denen es unmöglich ist, dass alles zur selben Zeit passend zusammenfällt, das heisst, die Luna XIV und der Sonntag, nachdem das Äquinoktium überschritten ist, wird zugestanden, dass wir die Grundlage unseres Festes bis zur Luna XX ausdehnen."

Nach dieser Stelle hätte Anatolius den Ostersonntag in den Zeitraum Luna XIV bix XX gelegt.

Das Ausgangsjahr:

Es herrscht in der Wissenschaft weitgehende Übereinstimmung darin, dass die Ostertafel des Anatolius mit dem Jahr 258 p. Chr. n. beginnt, allerdings kann das Jahr 277 nicht völlig ausgeschlossen werden[9]. Anatolius hat seine Tabelle vermutlich wenige Jahre nach dem Ausgangsjahr konstruiert. Für das Jahr 258 spricht, dass er bis 262 in Alexandria gelebt und dort als Lehrer an seiner Akademie gelehrt hat, was ihm Zugang zu den umfangreichen Bibliotheken der Stadt und Kontakte mit christlichen, jüdischen und "heidnischen" Wissenschaftlern ermöglicht hat. Ein weiteres Indiz ist ein Vermerk des Victorius in seiner Ostertafel, der zum Jahr 353, also 95 Jahre nach dem Jahr 258, anmerkt: "initium paschalis Graecorum seu Machedonum post annos XCV". Auch aus dem Zyklus P (siehe unten) kann auf dieses Startjahr geschlossen werden.

Die Rekonstruktion der Ostertabelle des Anatolius

Bei der Rekonstruktion sind folgende Punkte zu beachten:

Der Codex P

Im Jahr 1957 stellte Van de Vyver einen Ostertafel vor, die vom Jahr 429 bis zum Jahr 523 reicht. Sie beginnt 171 Jahre, also 19 Zyklen à 19 Jahren, nach dem Anfangsjahr des ersten Zyklus von Anatolius und umfasst fünf Zyklen oder 95 Jahre. Man kann in ihr einen Übergang von der ursprünglichen Tafel des Anatolius zu der kanonischen alexandrinischen Osterrechnung verstehen. Gleich im Titel finden sich allerdings zwei haarsträubende Fehler. Zum einen wird der Calculus zurückgeführt auf Dionysius, den 264 verstorbenen Bischof von Alexandria, zum anderen wird suggeriert, der Zyklus beginnen nach Ablauf von 95 Jahren wieder von Anfang an. Die Sachkenntnis und Sorgfalt von Bearbeitern und Kopisten früher Handschriften lässt häufig zu wünschen übrig. Man sollte daher bei der Interpretation derartiger Quellen grundsätzlich Vorsicht walten lassen.

In diesem Codex P stimmen die Angaben für Luna XIV mit den Daten des kanonische Zyklus überein, ausgenommen im 9. Jahr, dem ersten Jahr des kanonischen Zyklus. Codex P gibt hier wie auch die Rekonstruktionen der Ostertafel des Anatolius den 6. April an, der Epakte 29 entsprechen würde, im kanonischen Zyklus steht hier der 5. April, der Epakte Null hat.

Tabellen

Der folgende Überblick zeigt die Ostertafel des Anatolius in den Rekonstruktionen nach Schwartz und van de Vyver. Zum Vergleich werden noch die Daten des Codex P und der kanonischen alexandrinischen Osterrechnung hinzugefügt. Die Vollmondtermine wurden der Tabelle der NASA entnommen.

Datumsangaben nach dem ägyptischen und nach dem julianischen Kalender. VII. = Phamenoth; VIII. = Pharmuthi; M. = März, A. = April

  Anatolius Kanonisch Vollmond
astron.
UT + 2
  Schwarz   Vyver   Zyklus P  
Jahr Z Luna XVI II Z Ep. Luna XVI II Z Ep. Luna XVI II Z Luna XIV
258 1 9. VIII. 4. A. 1 1 1 9. VIII. 4. A. 1 1 1 9. VIII. 4. A. 1 12 4. A. 5. A. 17:31
259 2 28. VII. 24. M. 2 2 12 28. VII. 24. M. 2 2 12 28. VII. 24. M. 2 13 24. M. 26. M. 08:56
260 3 17. VIII. 12. A. E 3 23 17. VIII. 12. A. E 3 23 17. VIII. 12. A. E 14 12 A. 13. A. 09:23
261 4 6. VIII. 1. A. 1 4 4 6. VIII. 1. A. 1 4 4 6. VIII. 1. A. 1 15 1. A. 3. A. 01:08
262 5 25. VIII. 20. A. E 5 15 25. VII. 21. M. 2 5 15 25. VII. 21. M. 2 1621.M. 23. M. 11:31
263 6 14. VIII. 9. A. 1 6 26 14. VIII. 9. A. E 6 26 14. VIII. 9. A. E 17 9. A. 11.A. 06:20
264 7 3. VIII. 29. M. 2 7 7 3. VIII. 29. M. 1 7 7 3. VIII. 29. M. 1 18 29. M. 30. M. 07:22
265 8 22. VIII. 17. A. E 8 18 22. VIII. 17. A. E 8 18 22. VIII. 17. A. E *19 17. A. 18. A. 00:08
266 9 11. VIII.6. A. 1 9 *29 11. VIII.6. A. 1 9 *29 11. VIII.6. A. 1 1 5. A. 7. A. 04:52
267 10 30. VII.26. M. 2 10 11 29. VII.25. M. 2 10 11 29. VII.25. M. 2 2 25. M. 27. M. 16:39
268 11 19. VIII.14. A. E 11 22 18. VIII.13. A. E 11 22 18. VIII.13. A. E 3 13. A. 14. A. 16:40
269 12 8. VIII.3. A. 1 12 3 7. VIII.2. A. 1 12 3 7. VIII.2. A. 1 4 2. A. 4. A. 09:33
270 13 27. VII.23. M. 2 13 14 26. VII.22. M. 2 13 14 26. VII.22. M. 2 5 22. M. 25. M. 00:06
271 14 16. VIII.11. A. E 14 25 15. VIII.10. A. E 14 25 15. VIII.10. A. E 6 10. A. 12. A. 21:20
272 15 5. VIII.31. M. 1 15 6 4. VIII.30. M. 1 15 6 4. VIII.30. M. 1 7 30. M. 1. A. 02:13
273 16 24. VIII.19. A. E 16 17 23. VII.19. M. 2 16 17 23. VIII.18. A. 2 8 18. A. 21. M. 02:31
274 17 13. VIII.8. A. 1 17 28 12. VIII.7. A. E 17 28 12. VIII.7. A. E 9 7. A. 8. A. 19:55
275 18 2. VIII.28. M. 2 18 9 1. VIII.27. M. 1 18 9 1. VIII.27. M. 1 10 27. M. 29. M. 02:36
276 19 21. VIII.16. A. E 19 20 20. VIII.15. A. E 19 20 20. VIII.15. A. E 11 15. A. 16. A. 01:03

 


Anmerkungen

1 Eusebius, Kirchengeschichte, VII, 32 Internetlink
2 Krusch hat eine lateinische Edition gefertigt, in deren Einleitung er das Stück mehrfach als Machwerk 1880 bezeichnete, siehe Krusch (1880), S. 311 ff.) Schwartz schreibt, "Krusch hat mit unwiderlegbaren Gründen bewiesen, dass diese Schrift ...eine auf den britischen Inseln im 6. Jahrhundert entstandene Fälschung ist,; wenn Dilletanten, die von Chronologie nichts verstehen, es ihm nicht geglaubt haben, so kommt es auf ihren Widerspruch nicht an." Schwartz (1905), S. 100.
3 Jones (1943), S. 82 ff.
4 Deutsche Übersetzung bei Strobel 1984, S. 1 - 42.
5 Mc Carthy 2003
6 Aufzählung bei Strobel (1984), S. 30]
7 Schwartz (1907) S. 15 ff., Van de Voyer (1957)
8 Schwarz (1905), S. 15, Strobel (1984), S. 11, Van de Voyer (1957)
9 vgl. Strobel 1984, 25.

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